Arnos Leserbrief in der Zeitschrift „Was ist Erleuchtung“
(ISBN 3-935688-05-9) 2003
Einige Artikel der spannenden Ausgabe 03 zum Thema „Erleuchtung“ aus der Sicht von Advaita, Buddhismus und der Transpersonalen Psychologie haben mich derart provoziert, dass ich mich jetzt äußern muss. Besonders war es der Artikel über Ramesh Balsekar oder der über Dr. Vijai Shankar. – Seit Jahren beschäftige ich mich mit dem Thema Ost und West in Form von „Anthroposophie & Tantra“. In unseren Seminaren zeigt sich, dass damit ein sehr fruchtbarer Weg zum Verständnis des Seins, dem Sinn der Maja, der Erleuchtung, ja überhaupt ein anfängliches Verständnis für die grundsätzliche Seelenlage in Ost und West gefunden wurde…
Was hat mich in den Artikeln so provoziert? Hier zwei Beispiele:
1.) Da ist z. B. dieser auf die Spitze getriebene Fatalismus des Ramesh Balsekar, wogegen sich Chris Parish im Interview tapfer wehrt, bis er schließlich im Nachwort eine ganz wesentliche Erfahrung im Loslassen erfährt. Wie ist dieser Umschwung möglich? (im Voraus gesagt: Weil er eine lange Vorbereitungszeit hatte!)
2.) Im Artikel zur Transpersonalen Psychologie ist zu lesen: „Während herkömmlicherweise die Auffassung herrscht, dass die spirituelle Suche alles von uns fordert, was wir an Fähigkeiten aufbringen können, verlangt die Erleuchtung am Ende immer, alle unsere Hilfsmittel, Karten und Konzepte hinter uns zu lassen und blind und mit leeren Händen ins Unbekannte zu treten. „Ihr stellt euch den (Einen) Geist… als etwas vor, das auf die gleiche Weise untersucht werden kann wie eine Kategorie des Wissens oder wie ein Konzept“, schrieb der Zen-Meister Huang Po bereits im neunten Jahrhundert vor Christus. „Wer seinen Geist auf diese Weise wie Augen benutzt, wird sicher vermuten, dass Fortschritt etwas ist, das sich in mehreren Stadien vollzieht. So ein Mensch ist von der Wahrheit so weit entfernt wie die Erde vom Himmel.““
Diese Aussage dürfte manche Anthroposophen aufs äußerste provozieren, wo doch Rudolf Steiner selbst die Anthroposophie gerne als Geisteswissenschaft, „Wissenschaft vom Geistigen“, also vom Nicht-Sichtbaren bezeichnet…
Ja, am Ende ist „Erleuchtung ein Sprung, der über alles Bekannte… hinausgeht“, aber eben am Ende! Das ist ein ganz wesentlicher Faktor, der in östlicher Auffassung seltsamerweise meist nicht bemerkt wird. Selbst Buddha wanderte viele, viele Jahre als Asket umher, studierte bei verschiedenen Meistern und ergab sich harter Kasteiung – die so lang ersehnte Erleuchtung trat nicht ein. Erst als er endgültig aufgab und los-ließ, trat sie – ganz unerwartet – ein.
Diese lange, ausdauernde Suche und Arbeit scheint eine wesentliche, wichtige Voraussetzung der Erleuchtung zu sein. Sicher, letztlich geht es um Hingabe, doch wenn man damit beginnt, entsteht nur Trägheit und Stagnation. Es ist noch keine Energie da. Das „Tun und Machen“ führt nicht zur Erleuchtung, aber wir lernen viel dabei. Daraus entsteht nicht zwingend Erleuchtung. Da bin ich ganz mit Ramesh Balsekar einer Meinung: Die wirklichen Ereignisse geschehen, sie ereignen sich ohne unser Zutun, sie sind Gnade, sie „fallen mir zu“ („Zu-Fall“). Meine Suche, meine Arbeit aber kann dazu beitragen, eine Atmosphäre, ein Energiefeld aufzubauen, in das hinein ES dann geschehen kann. Ich muss erst etwas haben, dann kann ich es loslassen, dann kann es sich verwandeln – „Wer hat, dem wird gegeben werden“.
Gegeben ist uns vorerst die Maja – die äußere Erscheinung der Welt mit all ihren Beschwerlichkeiten und Schönheiten: im materialistischen Westen als die einzige Wahrheit hochgehalten, im Osten als Illusion, als das Hindernis zur wirklichen Erkenntnis, zur Erleuchtung angesehen. So lesen wir bei Dr. Vijai Shankar: „…Ich weiß nicht, weshalb die Menschen hierher kommen. Ich lehre sie nichts, kommt gar nicht in Frage! Ich lehre sie nie etwas. Es gibt nichts zu lehren, mein Freund. Was wollen Sie über eine Illusion lehren?“ (Das schlägt dem Fass den Boden aus, aber darum geht’s wohl auch, oder !?)
Was der Westen und speziell die Anthroposophie als Vertreter westlicher Schulungswege hier zu ergänzen hat, ist unter vielem anderen dies, dass die Maja durchaus Illusionscharakter hat, aber eine tiefe innere Wahrheit beinhaltet. Die Er-scheinung (Nomen est Omen!), und schon allein deren Tatsache (!), hat tiefen Sinn, sie ist das „Bilderbuch der Wahrheit“. Man muss es erst mal lesen lernen. Oder ist wirklich alles nur ein großartiger Scherz, wie Dr. Vijai Shankar meint? Ein großartiger Scherz, um uns zu ärgern, zu belästigen, oder was??
Es ist gar nicht egal, ob ich lieblos, unachtsam, oder liebevoll mit den Geschöpfen innerhalb der Maja umgehe, das ist in der Praxis des Tantra unmittelbar erlebbar. Die Art und Weise, das Motiv meiner Bemühungen hat weitreichende Folgen – für andere Geschöpfe ebenso wie auch für meine eigene Entwicklung, für die Erleuchtung. Da gibt es durchaus Qualitätsunterschiede.
Es kann schon sehr beglückend sein zu erfahren, wie Sinn-voll und weise die Welt eingerichtet ist, bis in alle Einzelheiten. Und dass die ganze Welt eine durchaus notwendige Einrichtung ist, ohne die bestimmte Entwicklungsschritte einfach nicht möglich wären – besonders nicht in der geistigen Welt, denn gerade sie hat sich offensichtlich den physischen Plan geschaffen um weiterzukommen. – Mit der im Osten weit verbreiteten Sehnsucht nach Rückkehr zur Heimat kann es wohl nicht allein getan sein – und mit einer Erleuchtung, die nur aus dieser Sehnsucht heraus angestrebt wird, dürfte man sich – sogar wenn sie eintritt – nur aus der einst selbst aufgesuchten Entwicklungschance wieder herauskatapultieren. Und von dieser Möglichkeit sollte man wenigstens eine Ahnung haben…
Sich der Welt liebevoll zuzuwenden ist ebenso not-wendig wie das alles sein lassen zu können. – Wann endlich wird sich Ost und West ergänzen?